Normenverzeichnis » Norm: DGUV I 204-011

Änderungsvermerk

Änderungen zur letzten Ausgabe: Die Erste-Hilfe-Maßnahmen nach der Rettung aus der hängenden Position wurden den aktuellen medizinischen Erkenntnissen angepasst. Statt einer früher empfohlenen Kauerstellung als initiale Lagerung wird
in der aktualisierten Fassung die Flachlagerung (oder die Lagerung nach Wunsch) der betroffenen Person aufgeführt.

Hinweise der Redaktion

Titelletzte Änderung
Gefährdung durch Hängetrauma 11.04.2025 18:15

Beschreibung

Inhaltsverzeichnis

1 Gefährdeter Personenkreis und Häufigkeit
2 Symptome und Beschreibung des Hängetraumas
3 Verhalten bei freiem Hängen im Seil
3.1 Halteseil mit Längeneinstellvorrichtung
3.2 Prusikschlinge
3.3 Eigenmaßnahmen ohne Hilfsmittel
4 Rettung
5 Hinweise zur Ersten Hilfe und ärztlichen Versorgung
6 Betriebliche Prävention

1 Gefährdeter Personenkreis und Häufigkeit

Das Hängetrauma, auch Hängesyndrom genannt, kann bei längerem, bewegungslosem Hängen in einem Auffanggurt, z.B. nach einem Sturz von einem hochgelegenen Arbeitsplatz, zustande kommen. Aufgrund von Bewegungslosigkeit fehlt die Funktion der so genannten „Muskelpumpe“ durch die Beinmuskulatur, wodurch der Rückstrom des Blutes aus den Beinen vermindert wird bzw. zum Erliegen kommt.

Es kann aufgrund unterschiedlicher pathophysiologischer Mechanismen zu einem (Kreislauf)-Schock kommen.

Bei bestimmungsgemäßer Benutzung von persönlichen Schutzausrüstungen gegen Absturz ist das Auftreten eines Hängetraumas heute sehr unwahrscheinlich. Dafür ist eine sachgerechte Auswahl, das exakte Anpassen des Gurtes mit der Durchführung eines Hängeversuchs (s. DGUV Regel 112-198 „Benutzung von persönlichen Schutzausrüstungen gegen Absturz“) erforderlich. Darüber hinaus ist die Planung und Vorbereitung entsprechender Rettungsmaßnahmen (s. DGUV Regel 112-199 „Retten aus Höhen und Tiefen mit persönlichen Absturzschutzausrüstungen“) notwendig.

Das Hängetrauma kann bei Personen auftreten, die nach einem Sturz längere Zeit „hilflos“ im Auffanggurt hängen und z.B.

  • schlecht angepasste Auffanggurte tragen,
  • Auffanggurte unsachgemäß benutzen,
  • sich beim Sturz verletzt haben
  • oder bewusstlos sind.

Dies gilt analog bei der Nutzung von Steigschutzeinrichtungen. Verschiedene Faktoren begünstigen das Auftreten eines Hängetraumas, u.a.:

  • Angstzustände, Schreck,
  • Flüssigkeitsmangel,
  • Erschöpfung,
  • Witterungseinflüsse (Hitze oder Kälte),
  • Verletzungen,
  • Schmerzen.

2 Symptome und Beschreibung des Hängetraumas

Durch längeres, bewegungsloses Hängen im Gurt fehlt der Widerstand unter den Füßen und die so genannte „Muskelpumpe“ zur Förderung des venösen Blutrückstromes kann nicht mehr wirken (Versacken des Blutes in den Beinen – Orthostase). In der Folge kann es aufgrund unterschiedlicher pathophysiologischer Mechanismen zum Schock, unter Umständen mit Todesfolge, kommen.

Pathophysiologische Faktoren des Hängetraumas:

  • Muskelpumpe fällt aus (Minderung des venösen Rückstroms)
  • Relative Hypovolämie (Versacken des Blutes in den Beinen)
  • Zellschwellung/Zellfunktionsstörung
  • Minderung der Herzauswurfleistung
  • Störungen auf zellulärer Ebene (Sauerstoffmangel)

Die Auswirkungen eines längeren, bewegungslosen Hängens in einem Auffanggurt können je nach Gesundheits- und Körperzustand der Person individuell sehr unterschiedlich sein. Folgende Symptome können auf die Entstehung eines Hängetraumas hinweisen:

  • Blässe,
  • Schwitzen,
  • Kurzatmigkeit,
  • Pulsanstieg oder Pulsabstieg,
  • Blutdruckanstieg oder Blutdruckabfall,
  • Sehstörungen,
  • Schwindel,
  • Übelkeit

3 Verhalten bei freiem Hängen im Seil

Grundsätzlich sollte die betroffene Person möglichst schnell aus der freihängenden Position befreit werden. Solange eine Person noch handlungsfähig ist, kann sie unterschiedliche Maßnahmen ergreifen, um dem Blutstau in den Beinen entgegen zu wirken. Dazu ist es notwendig, dass die im Gurt hängende Person die Beine bewegt. Effektiver ist es, die Beine abzustützen und gegen einen Widerstand zu drücken. Hierfür sind Trittschlingen, z.B. ein Halteseil mit Längeneinstellvorrichtung oder eine Prusikschlinge geeignet. Damit kann sich die frei hängende Person entlasten, die „Muskelpumpe“ kann in Gang gehalten und eine eventuelle Einschnürung im Oberschenkel gelöst werden.

3.1 Halteseil mit Längeneinstellvorrichtung

Das Halteseil mit Längeneinstellvorrichtung wird dabei an den beiden seitlichen Halteösen des Auffanggurtes befestigt. Die Länge des Seiles ist so einzustellen, dass die im Seil hängende Person ihre Füße in die so entstandenen Seilschlaufen stemmt, um die Muskelpumpe zu betätigen.

3.2 Prusikschlinge

Die Prusikschlinge, eine Reepschnur, wird mit dem Prusikknoten – einem lösbaren Klemmknoten – am Sicherungsseil befestigt. Die Länge der Prusikschlinge ist auf die Körpergröße abzustimmen, so dass sich die Person durch Hineintreten in die Schlinge entlasten kann. Die Anwendung der Prusikschlinge sollte vorher geübt werden.

Die Prusikschlinge wird bereits vor Arbeitsbeginn für den „Ernstfall“ vorbereitet und leicht zugänglich und erreichbar z.B. in einer Schutztasche am Auffanggurt verstaut.

3.3 Eigenmaßnahmen ohne Hilfsmittel

Sollte kein Halteseil mit Längeneinstellvorrichtung oder keine Prusikschlinge zur Verfügung stehen, kann sich die frei im Seil hängende Person wechselweise jeweils mit einem Fuß fest auf den anderen Fuß treten. Dabei wird der untere Fuß kräftig mit den Zehen nach oben gezogen. Dies hält allerdings nur für eine sehr kurze Zeit (wenige Minuten) den Rückfluss des Blutes aus den unteren Extremitäten in Gang.

4 Rettung

Hilflose Personen müssen möglichst schnell aus der freihängenden Position befreit werden. Es liegt in der Verantwortung des Unternehmers oder der Unternehmerin, die schnelle Rettung einer im Auffanggurt hängenden Person zu gewährleisten.

Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der öffentliche Rettungsdienst meist nicht über Einrichtungen und Personal für die Höhenrettung verfügt. Für eine schnelle Rettung muss deshalb der Unternehmer oder die Unternehmerin in der Regel selbst Einrichtungen und Sachmittel sowie fachkundiges Personal zum Retten hängender / aufgefangener
Personen bereitstellen (DGUV Vorschrift 1 „Grundsätze der Prävention § 24 Abs. 1 ).

Einzelheiten zu möglichen Rettungsmaßnahmen bzw. deren Planung enthält die DGUV Regel 112-199 „Retten aus Höhen und Tiefen mit persönlichen Absturzschutzausrüstungen“.

5 Hinweise zur Ersten Hilfe und ärztlichen Versorgung

Das Hängetrauma ist ein medizinischer Notfall. Es ist umgehend der Notruf abzusetzen. Notärztliche Hilfe anfordern!

Nach der Rettung der Person sind die üblichen Maßnahmen der Ersten Hilfe anzuwenden (siehe DGUV Information 204-007 „Handbuch zur Ersten Hilfe“).

Die initiale Lagerung richtet sich nach dem Wunsch des Betroffenen.
Häufig ist eine Flachlagerung sinnvoll.

Die früher empfohlene Kauerstellung ist hinfällig und wird nicht mehr gelehrt.
.
Auf weitere Verletzungen durch den Sturz ist zu achten.

Bei der rettungsdienstlichen Versorgung ist unter anderem zu denken an:

  • Vorerkrankungen (auch als mögliche Sturzursache),
  • Hypo-/Hyperthermie (Auskühlung, Hitzschlag),
  • Hypoglykämie (Unterzuckerung),
  • Herzrhythmusstörungen

6 Betriebliche Prävention

Bei der Erstellung der Gefährdungsbeurteilung muss berücksichtigt werden, dass eine Person nach einem Auffangvorgang hilflos im Auffanggurt hängen kann und aus dieser Position gerettet werden muss. Die hierzu notwendigen Maßnahmen und Vorgehensweisen sind im Vorfeld festzulegen und in regelmäßigen Zeitabständen zu üben.

Wenn die nachfolgenden betrieblichen Maßnahmen eingehalten werden, kann das Risiko eines Hängetraumas minimiert werden:

  • Auswahl fachlich und körperlich geeigneter Personen,
  • Auswahl geeigneter Auffanggurte (Anpassung/Hängeversuche),
  • Aufstellen eines geeigneten Rettungsplanes,
  • Unterweisung einschließlich Übungen für persönliche Schutzausrüstungen nach DGUV Grundsatz 312-001 „Anforderungen an Ausbildende und Ausbildungsstätten zur Durchführung von Unterweisungen mit praktischen Übungen bei Benutzung von persönlichen Schutzausrüstungen gegen Absturz und Rettungsausrüstungen“,
  • Mindestens eine zweite Person zur unverzüglichen Einleitung der Sofort- und Rettungsmaßnahmen vor Ort,
  • Vorhalten der Rettungsausrüstung vor Ort.

Weiterführende Literatur

  • DGUV Vorschrift 1 „Grundsätze der Prävention“
  • DGUV Regel 112-198 „Benutzung von persönlichen Schutzausrüstungen gegen Absturz“
  • DGUV Regel 112-199 „Retten aus Höhen und Tiefen mit persönlichen Absturzschutzausrüstungen“
  • DGUV Grundsatz 312-001 „Anforderungen an Ausbildende und Ausbildungsstätten zur Durchführung von Unterweisungen mit praktischen Übungen bei Benutzung von persönlichen Schutzausrüstungen gegen Absturz und Rettungsausrüstungen“